«Der freie Wille»: Bleierne Selbstsuche
13. Feb 19:14
| Nach der Offenbarung: Nettie (Sabine Timoteo) ist am Boden. | Foto: Promo |
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Der zweite deutsche Beitrag im
Berlinale-Wettbewerb präsentiert Jürgen Vogel als Vergewaltiger. Der
Film brilliert mit starken Szenen und herausragenden Darstellern – und
verdirbt sich dann doch alles.
«Reden ist vielleicht keine so gute Idee», sagt Theo
(Jürgen Vogel) irgendwann in «Der freie Wille». Und damit hat er den
Nagel auf den Kopf getroffen. Denn sowohl er als auch seine Freundin
Nettie (Sabine Timoteo) haben es nicht so damit, ihr Gefühlsleben in
Worte zu kleiden.
Was allerdings in den beiden speziellen Fällen auch
keine einfache Aufgabe ist: Theo ist gerade erst nach mehr als neun
Jahren aus dem Maßregelvollzug entlassen worden, in den er wegen dreier
Vergewaltigungen geraten ist, bei denen er seine Opfer außerdem brutal
zusammengeschlagen hat. Nettie dagegen hat es mit 27 Jahren gerade erst
geschafft, aus den Fängen ihres Vaters zu flüchten, der sich total an
sie klammert und ihr eigenes Seelenleben komplett erdrückt hat.Regisseur
Matthias Glasner bringt in seinem Film «Der freie Wille» den Mut auf,
nach dem Menschen hinter dem Triebtäter Theo zu suchen. Der muss nach
der Entlassung nun wieder ein Leben finden, mit seinen Taten klar
kommen - und mit der verheerenden Erkenntnis, dass auch neun Jahre
Therapie den Drang in seinem Innern nicht haben verschwinden lassen.
Annäherung in Zeitlupe Wir
sehen viel von Theo, wie er einsam durch die Stadt streicht, wie er
gehemmt versucht, «normalen» Kontakt zu Frauen aufzubauen, sich mit
Sport und Pornos abreagiert. Die Annäherung an seine Freundin Nettie
läuft bei zwei so beladenen Menschen in Zeitlupe ab. Als die beiden
nach vielen Treffen und Kontroversen endlich im gleichen Bett landen,
verweigert Theo jede Berührung – weil er in Wirklichkeit Angst hat, vor
Frauen oder davor, die Dinge nicht mehr kontrollieren zu können.
«Einsamkeit ist das Schlimmste, das es gibt», erklärte der Regisseur
nach dem Film seine Sicht auf sein Werk. «Und ich glaube, dass das in
meinem Film wichtiger ist als das Thema Vergewaltigung.» Was die
Ästhetik angeht, regiert die Handkamera. Lange Einstellungen von
scheinbaren Banalitäten, lauter Straßenlärm zu leisen Dialogen. «Keine
Kamerafahrten und keine Kräne», erläutert Glasner. «Ich wollte ganz nah
an die Schauspieler herankommen.» Und er betont, er habe alle Fäden des
Projekts selbst in der Hand gehabt. Und genau das dürfte das
Problem sein. Denn auch wenn vor allem Vogel, aber auch Timoteo, ihre
Figuren und deren innere Zwiespälte auf eine schlichte Weise
herausragend in Szene setzen – mit fast drei Stunden ist der Film
mindestens eine Stunde zu lang.
Zu wenig Mut zum Kürzen Bei
allem Verständnis für die langsame Gangart und die nonverbale
Charakterisierung der Figuren: Niemand hätte irgendetwas vermisst, wenn
Theo einmal weniger in den Supermarkt, durch die Stadt oder zum Karate
gegangen wäre. Niemand hätte sich daran gestört, wenn man nach dem Film
etwas weniger über die Herstellung von Schokolade gewusst hätte, oder
wenn eine Figur nicht den ganzen Weg ins andere Haus in Echtzeit
zurückgelegt hätte, egal wie lang die Straße auch ist. Gerade im
ersten Teil, als zwischen Theo und Nettie noch nichts ist, dauert es
bleierne Ewigkeiten, bis die Geschichte Fahrt aufnimmt. Ein externer
Cutter hätte das mit einigen emotionslosen Schnitten beheben können –
wenn man ihn denn gelassen hätte.
Der Horror des Opfers Dann
wäre auch besser zur Geltung gekommen, dass es eine Menge gibt, das an
«Der freie Wille» wirklich herausragend ist. Das fängt schon bei der
Vergewaltigungsszene ganz am Anfang an: Unfassbar grausam und brutal,
aber gleichzeitig auch linkisch, unbeholfen und fernab von Klischees
läuft sie ab, der Horror für Theos Opfer wird so greifbar, dass man
gerne wegschauen möchte. Er habe mit der Handkamera und mit Selbstekel
draufgehalten, erklärt Glasner.
| Sehnsucht nach normalem Glück: Theo (Jürgen Vogel) Nettie (Sabine Timoteo) | Foto: Promo |
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Auch Jürgen Vogel hat mit der Rolle und seiner
Darstellung viel Mut bewiesen – nicht nur zur gleich mehrfachen
Entblößung. Die Art, wie er Theos Kampf gegen sich selbst und
gleichzeitig die Sehnsucht nach einem ganz normalen Glück darstellt,
ist oft unspektakulär, aber absolut überzeugend. Sabine Timoteo, die
sich langsam öffnet und von Theo auch nicht lassen will, nachdem der
ihr alles gestanden hat, schafft es immer wieder, neue, glaubhafte Wege
zu finden, ihr Gefühlsleben darzustellen.Ein Statement dazu, ob
Sexualtäter nun therapierbar sind oder nicht, wollte Regisseur Glasner
nach eigenem Bekunden ausdrücklich nicht abgeben. Sehnsucht nach
Erlösung sei dagegen eins der Hauptmotive. Ob Theo sie findet? Das
hängt ganz davon ab, was man unter dem Begriff versteht.
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